Dritter Akt – Auflösung, Verklärung und Zukunft

„A real musical culture should not be a museum culture based mainly on music of the past ages; nor should it be, like most commercial music, a drug. It should be the active embodiment in sound of the life of a community – of the everyday demands of people’s work and play and of their deepest spiritual needs.“
Wilfrid Mellers (1914-2008), Englischer Musikjournalist

Es muss wohl zwischen der unbezahlbaren und nicht fassbaren Musik ansich und einer äusserlichen objektiven und greifbaren Hülle, für die man einen Wert definiert, unterschieden werden. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) spricht in seinem Essay über Musikästhetik in Bezug auf den Begriff Musik selbst von ihrer „subjektiven Innerlichkeit“, welche vereinfacht dem geistigen Gehalt und ihrem sinnlich-spirituellen Wert entspricht, weil Musik im Gegensatz zur bildenden Kunst oder zum Buch eben nicht förmlich und objektiv, also greifbar und haptisch ist. Sie manifestiert sich rein durch den Ausführenden, den Musiker.  Diese tief gehenden, aber hoch interessanten musikphilosophischen Betrachtungen würden hier den Rahmen sprengen. Eine Analyse der Geschichte der Kulturindustrie in Bezug auf diese philosophischen Aspekte der Musik wäre aber sicher interessant. 

Ich kann mir bei Musik nichts denken“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Deutscher Philosoph

Legendäre Aufnahmen – ich nenne hier beispielhaft alle jene des Dirigenten Carlos Kleiber bei der Deutschen Grammophon – sind also im Grunde unbezahlbar und somit als musikhistorische Dokumente mit einzigartigen Kunstwerken vergleichbar. Wenn wir diese Aufnahmen, sei es als Vinyl, CD oder Stream hören, besitzen wir sozusagen ein Faksimile davon. Den Preis, den wir dafür beim Erwerb bezahlen, ist eben nur ein willkürlicher Wert. Hier setzt die Kulturindustrie und der Verkauf der Tonträger an die Masse eben auch ursprünglich ein.

Während in der Blütezeit der Klassik-Plattenfirmen Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts  die bestmögliche Aufnahme der großen Werke der Musikliteratur durch die berühmten Künstler der Zeit im Zentrum ihrer quasi archivarischen Tätigkeit stand, tendiert die Branche seit der Sättigung des Marktes zur reinen Künstlervermarktung. Da die großen Dirigenten, Sänger und Instrumentalisten für ihre jeweiligen Aufnahmen gagenähnliche Verträge und, abhängig vom Verkauf, Entgelte bekamen, war diese Art der Abrechnung überschaubar. Je mehr Künstler aber auf den Markt drängten und je mehr Aufnahmen entstanden, desto schwieriger wurde ihr Absatz. Die Produzenten (vorrangig neue Labels wie Naxos und Oehms) bieten nun teilweise Einmal-Zahlungen für CD-Aufnahmen an: Plattenfirma und Künstler teilen sich die Kosten der Produktion, der Künstler hat eine Audiokonserve von sich als Visitenkarte, das Label fungiert nur mehr als Werbeplattform und Vertrieb. Dieses Modell übernehmen nun aber viele Ensembles, Orchester, ebenso Solokünstler für sich und produzieren, mit wenig Aufwand, ihre Aufnahmen selbst. 

Das Ende der Plattenfirmen ist so besiegelt.

„Weil es ihnen an Fantasie fehlte, verließen die Labels sich auf einen harten Kern von Gewohnheitskäufern, in der Mehrzahl Männer, die am Ersten des Monats in den Plattengeschäften herumlungerten und darauf warteten, in die Neuerscheinungen hineinzuhören.“ (17)

Der Musikjournalist Norman Lebrecht beschreibt diesen Untergang eindrücklich in seinem Buch „Ausgespielt – Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“. Was für die Klassik gilt, ist auf den gesamten Musikmarkt ausdehnbar und vice versa. 
„Die vollständige Überlagerung der kulturellen Zwecke durch die kommerziellen, die unausweichlich entsteht, wenn der Markt durch drei oder vier Firmen kontrolliert wird, war der Hauptgrund für den Kollaps der Klassikindustrie.“(18)

Die produzierte Masse an Musik und das dadurch überforderte Publikum, welches nicht mehr den eigentlichen (Mehr)Wert der einzelnen Aufnahmen, also die verschiedenen Interpretationen, unterscheiden konnte und schon gar nicht alle Einspielungen kaufen konnte und wollte, vernichtete zunehmend den Markt für Musik. Die Plattenbosse der damaligen weltweiten Plattenimperien, die Lebrecht chronologisch mit ihrem Missetaten aufzählt, taten ihr übriges.

Die momentane Führungsriege der mittlerweile durch Fusion und Umschichtung entstandenen restlichen drei Major-Labels (Sony, Universal, Warner) versucht mit allen Mitteln das Thema „Klassik“ beim verwirrten Hörer wieder beliebt zu machen. Einerseits durch die Tendenz zur „New Classical Music“ (Max Richter oder Ambient Interpreten wie Einaudi) und extrem marketingbasierten „Cross-Over-Projekten“ (z.B. Opernsänger singen Weltmusik, Weihnachts- und Kinderlieder), also wiederum die Massenvariante des eigentlichen Klassikrepertoires. 

Andererseits durch den Aufbau einer neuen Künstlerriege, welche durch ihre gewollt andersartige Interpretation punktet, zeitgemäßes Denken und Agieren (über Social Media) praktiziert und so dem „alten weissen Mann“-Klischee der Ur-Klassik-Interpreten entgegenwirken und das verängstigte Publikum zurückgewinnen soll.

Vergessen wird dabei aber der essentielle Ausspruch Gidon Kremers (siehe Überschrift), dass es in der Klassik schon auch ums Werk und nicht allein den Interpreten gehen muss. Und dass, bei aller Liebe für neue Ansichten, auch die Ur-Interpreten seit Beginn der Tonträgerindustrie hochwertige Aufnahmen lieferten. Was sich ändert, ist nämlich der Hörer und nicht das Werk. Man fürchtet den fälschlich anhaftenden Staub eines Wilhelm Furtwänglers samt historisch bedingtem Image und scheint durch die besonders zeitgeistige und tief empfundene Spiritualität eines Theodor Currentzis samt seiner Werbewirksamkeit ein und das selbe Werk plötzlich immanenter und besser erklärt zu bekommen. Das Publikum passt sich dem gegebenen Markt und der Zeit an. Schwer hat es der Künstler, wenn er nun am Markt von zweierlei Seiten einverleibt wird: er muss das Werk und sich selbst so schmackhaft darbieten, dass es dem durch die Werbung erzielten Hörerwunsch gleichermaßen gerecht wird. Hegels „subjektive Innerlichkeit“ scheint hier im doppelten Sinne unmöglich. Mit einer zu diskutierenden Ausnahme: Herbert von Karajan.

„Ein wahrer Musiker darf keinen Mythos über seine Interpretation schaffen, sondern sollte eine derartige Mythenbildung durch andere besser verhindern.“ (19)

Die Hörerschaft von Musikkonserven fokussiert nun das Medium Internet. Die Musiker selbst verlagern sich und ihre Äusserungen und Interpretationen ebenfalls ins Netz (Stichwort Stream). Auch Corona hat vieles möglich gemacht und erzwungenermaßen einem Wandel unterzogen. Langsam stirbt die, dem Industriezweig namengebende Form „Platte“ aus. Immerhin in der Klassik erhält der „Künstler“ vielfach seine Daseinsberechtigung über den Werbewert hinaus zurück, auch wenn der Starkult noch immer einen erheblichen Effekt auf das Publikum ausübt. 

Künstler, die mitten in diesem Dilemma zwischen werbewirksamer Aufmerksamkeit und künstlerischem Intellekt stecken, bewegen sich auf schmalem Grad zwischen ihrem eigentlichen Künstlerdasein und der heutigen (twitter dominierten) Kommunikationswelt, in der sie Werbung für sich und die Musik machen müssen. 

Hartmut Welscher hat in einem Artikel für das „VAN Magazin“ das neue Künstlerbewusstsein am Beispiel des Pianisten Igor Levit beschrieben: „Auf dem hart umkämpften Sichtbarkeitsmarkt ist Levit der Prototyp des erfolgreichen Kulturunternehmers geworden, der die unterschiedlichsten Aspekte seiner Persönlichkeit zu einer authentischen Marke formt. (…) Während viele MusikerInnen darauf warten, von JournalistInnen oder einer Agentur entdeckt zu werden, hat Levit erkannt, dass der beste Weg, sich Beachtung zu verschaffen, der ist, das Bedürfnis anderer nach Beachtung zu bedienen.“(20)
Die besondere Aufmerksamkeit für seinen „Beethoven“, sogar bei der Nicht-Klassikhörerschaft, ist Beweis für den Erfolg dieser Strategie.

Das alte Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie, durch Talent und Werbung gleichermaßen vom Künstler selbst initiiert und organisiert wie zu Zeiten von Farinelli und Paganini, erfährt nach einem jahrelangen, durch Gier und Misswirtschaft scheinbar gescheiterten, eigennützigen Zwischenspiel der Plattenindustrie, trotzdem ein gemeinsames Revival.

Tim Renner schreibt über den Weiterbestand der Branche: „(…) denn die Musikfirma der Zukunft begreift sich als Management, Verlag und Label in einem – nicht nur als Plattenfirma.(…) Die Musikfirma der Zukunft macht Spaß!“

Die Verkleinerung der Firmen und die jeweilige Fokussierung auf wirklich musikalisch wertvolle Produkte, die Rückbesinnung auf die Musik und den, im Hegelschen Sinne, Künstler als Subjekt (und nicht Objekt), scheint ein guter Ausweg aus der Massenmisere und der damit verbundenen Degradierung von Kunst und Künstler zu sein. Die ganz oben von Cleveland zitierte Popularität der Musik sollte erreicht werden, in dem man den Künstler nicht als Produkt abwertet, sondern sich als Hörer intensiv mit ihm und der Musik beschäftigt und austauscht, auf eine gleiche Ebene stellt sozusagen. 

Das Geschäftsmodell „Masse“ der Musikgiganten hat weder auf der Produktions- noch auf der Verkaufsseite gefruchtet.

17 Norman Lebrecht: Aufstieg und Fall der Klassikindustrie
18 Norman Lebrecht: Aufstieg und Fall der Klassikindustrie
19 Gidon Kremer: „Briefe an eine junge Pianistin“
20 https://van.atavist.com/the-winner