Zweiter Akt – Verwirrung und Realitätsverlust
„Vor allem muss der Interpret das Werk lieben, nicht sich selbst darin“
Gidon Kremer (lettischer Geiger, *1947), in: „Briefe an eine junge Pianistin“
Der Klassikmarkt ist also mittlerweile ein Markt der Masse(n). Musik ist nicht mehr ausschliesslich Kunst, sondern vor allem Produkt.
Sie ist eins mit dem Vermittler. Der Künstler ist nicht mehr bloss ausführender Musiker, vielleicht im Idealfall seines Talents auch Interpret. Er vermittelt, aufgeladen durch sämtliche Marketingwerkzeuge, nun modernen Lifestyle bzw. Lebensinhalte oder politisch-moralische Identität und ist Projektionsfläche als Schwiegermuttertraum bzw. keckes Sexsymbol.
„Vergnügtsein heißt Einverstandensein.“ (13)
Daran ist per se nichts schlimmes zu finden. Starkult belebt das Geschäft. Wie bereits erwähnt vermitteln Lang Lang und Jonas Kaufmann, NickP und Hansi Hinterseer, Rihanna und Sido mehr als die Musik, die sie machen.
Und der Ort, wo sie auftreten, um ihrem Publikum nahe zu sein, ist seit Jahrhunderten der selbe. Egal ob Opernhaus, Konzertsaal oder Eventhalle: die (Inter)Aktion des passiven Zuhörens beim Konzert hat sich, samt teilweise hysterischen und kreischenden Fans – in Pop wie Klassik – immer noch nicht geändert. Das Dilemma rund um die technisch übertragene und dem Prinzip Werbung unterworfenen Musik macht sich erst bemerkbar, wenn es eben das Live-Event eben nicht gibt. Hier kommt, brandaktuell, Corona und das Versammlungsverbot ins Spiel. Wenn Musiker vor einer Kamera agieren, das Publikum örtlich zerstreut und separat vorm Abspielgerät sitzt, fehlt das Essentielle an der Kunstform Musik: das gemeinschaftliche Erleben. Allein Musik ist ein Moment, der verklingt und nur im Augenblick der Aufführung eine bestimmte anwesende Masse anspricht. Die Hürde zu einem neuen Kapitel des Live-Erlebens von Musik zwischen analog und digital muss erst genommen werden, die erhärteten Strukturen sich lösen und neue Ideen gefunden werden. Die Zukunft wird es weisen, wie virtuell Musik sein kann/darf.
Wenn Musiker nur Veröffentlichungen ihrer Live-Konzerte oder sogenannte Unplugged-Events erlauben, entspricht das am ehesten dem Konservierungsgedanken von Musikerlebnissen. Die Reproduzierbarkeit und Bindung an das Medium CD oder Download kann den einzigartigen Moment archivarisch festhalten und für dessen Käufer wieder erlebbar machen. Doch hier schliesst sich der Gedanke zum Produkt „Musik“. Und nun kommt die Frage nach ihrem Preis.
„Um ein Kunstwerk zu empfangen, muss die halbe Arbeit an demselben Empfänger selbst verrichtet werden“
Ferruccio Busoni (1866-1924), Komponist
Kunst schliesst also den Adressaten ein. Vielleicht ist es wichtig, sich an diesem Punkt die Frage zu stellen, warum wir (heute) Musik eigentlich hören.
Der Gebrauchszweck von Musik hat sich als Ergänzungsform zur Kommunikation beispielsweise als religiöse Umsetzung von Sprache (Kirchenmusik) oder als inszenierter künstlerischer Ausdruck eines Senders gegenüber einer zuhörenden Masse (Konzert, Oper) entwickelt. Dabei sollte aber nie das einfache passive Hören ausreichend sein, wie Busoni es so schön ausdrückt. Musik soll idealerweise fordern und animieren, dazu braucht es die bereits zitierte Aufmerksamkeit. Dann soll sie (das Publikum) verbinden, somit bilden und sich manifestieren und einen schlussendlich dadurch stärken.
„Es ist ganz wichtig, dass man das Publikum nicht da abholt, wo es sich gerade befindet, sondern dass man es fördert, indem man es fordert“
Christian Gerhaher (deutscher Bariton, *1969), zitiert in Seliger
Aber ein wesentlicher Faktor, welcher historisch entwickelt für Musik und Literatur übrigens gleichermaßen gilt, ist die Fokussierung auf den Zweck der Unterhaltung und damit verbunden die parallel dazu entwickelte Industrie und Kommerzialisierung. Hier scheint der Knack- und Wendepunkt in der Problematik der Tonträgerindustrie zu liegen. Wer zahlt, schafft an – diese Devise gilt seit den Kompositionsaufträgen der Kirchenfürsten der Frühgotik für Musik zur Heilgen Messe genauso wie für die münzgesteuerte Jukebox der 1950er Jahre und die DJs der Unterhaltungsmusik der Jetztzeit.
Und der „Trend zum Unterhaltungshörer“ ist nicht erst seit Erfindung des Tonträgers immanent. Barocke Herrscher bezahlten für ihr Vergnügen am Hof und hielten sich Komponisten und Musiker als höhergestellte Leibeigene. Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Konzertakademien entwickelte sich die Vergnügungsindustrie rund um Opern- und Konzerthäuser (diese waren übrigens ursprünglich auch Casinos !) und später auch die gastronomischen Amüsierbetriebe mit Varieté-Shows, oft im Rotlichtmilieu.
Die (Kunstgattung) Musik ist somit nicht nur geistige Beschäftigung, sei es der Ausführenden oder Zuhörenden, und Basis für einen Beruf, mit dem man künstlerisch oder organisierend Geld verdienen kann, sondern vor allem auch ein Produkt für den Zeitvertreib (der Nicht-Künstler) geworden. Die Einbeziehung des Kosten-Nutzen-Faktors in die Musik hat ihren Wert beeinflusst. Auch hier offenbart sich Musik wieder als vermeintliches Gebrauchsgut und Produkt, etwa zur viel propagandierten Entspannung und für Gesundheitszwecke („Bach for your mood“, „Baby needs Mozart“).
„Music helps not the toothache.“
George Herbert (1593 – 1633) in: Jacula Prudentum
Das Produkt Musik erfüllt also immer mehr einen hörerbezogenen ökonomischen Zweck. Was darf Musik nun ausserhalb des Konzertes kosten? Ist für die Konserve einer musikalischen Darbietung etwas zu zahlen? Wer verdient daran? Ist der Materialwert einer Vinylplatte oder einer Silberscheibe samt deren Verpackung eher gering zu bewerten, so bezahlt man doch für eine nicht materielle Leistung mit künstlerischem Wert, basierend auf jahrelanger Ausbildung und großem Talent des Künstlers. Ein Laie, der seine ehrgeizigen Klavierübungen auf Youtube präsentiert ist mittlerweile aber genauso gratis zu erleben wie Grigory Sokolov, wenn er Beethoven spielt. Dargeboten in jeweils nur minutenlangen kleinen Clips, die den Hörer nur teilweise in die Gesamtheit der Musikstücke transportiert. Paradox dabei: der kompositorische Aufbau und die wirkliche Dauer des eigentlichen Stückes wird nicht zum Kostenfaktor. War es ursprünglich bei der Entwicklung der CD-Scheibe die Dauer von Beethovens Neunter Symphonie, also ca. 75 Minuten und im Handel damals etwa 300 Schillinge oder 40 Deutsche Mark, die als Maßstab für Zeit und Geld der reproduzierten Musik veranschlagt wurden, sind es bei Streams und Downloads nur mehr ca. 10 Minuten, meist für den monetären Faktor 99 Cent, die, unabhängig von Qualität des Künstlers und Bekanntheit des Komponisten, verrechnet werden. So entstehen im unwillkürlichen Random-Mix etwa Zusammenstellungen wie Mixed Tapes, ohne musikhistorischen oder albumspezifischen Zusammenhang, die den, mittlerweile aber musikwissenschaftlich meist ungebildeten Hörer ob ihrer Buntheit wenig stören. Im Gegenteil, seine musikalische Diversität bezüglich Mainstream erweitert sich automatisch. Es kann sein, dass einzelne Musikstücke aus ihrem eigentlichen Werkzusammenhang gerissen zu Welthits werden. Selbiges gilt auch für klassische Musik, die in Werbung verwendet wird: die Firma Darbo landet einen Ohrwurm mit der Verwendung des Blumenduetts aus der Oper „Lakmé“ von Leo Delibes, wobei aber keiner der Marmeladenkäufer weiss, woher das Stück überhaupt stammt.
„Die Häppchenkultur, in der alles problemlos konsumierbar, leicht verdaulich und lecker zubereitet sein muss, verdirbt das Wissen um die Tiefe der ernsten Kunst und um ihre Möglichkeiten.“ (14)
Wie kann man den wahren Wert der konservierten Musik errechnen? Während Konzertkarten, also der Zutritt zu einem einmaligen Live-Event, von Veranstaltern aufgrund von Künstlergagen, Organisationskosten und möglichem Eigengewinn zu scheinbar grenzenlosen Preisen angeboten werden (der Schwarzhandel spielt hier in einer rechtlichen Grauzone mit), ist im Gegensatz der Wert aufgezeichneter Musik aufgrund des anvisierten massenhaften Absatzes und in ihrer der Masse dargebotenen häppchenartigen Form (auf Vinyl, CD oder im Streaming-Abo) geringer berechnet und im Laufe der Zeit, sprich durch die Kommerzialisierung, immer günstiger bzw. sogar bis zur kostenlosen Verfügbarkeit minimiert worden.
Das Phänomen Masse wurde auch hier ausschlaggebend. Möglichst viele Hörer erreicht man nicht indem man teures Geld verlangt. Die eingeführte Tantiemen-Regelung machte es möglich, die entstandenen Kosten eines Kunstwerks (in der Regel Musik, aber auch Literatur oder Design) abzusenken und über den massenhaften Erfolg abzurechnen. Der Ersatzwert für die Kunst wurde der überdimensionale Werbewert für die Künstler selbst.
13 Horkheimer/Adorno: Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug
14 Berthold Seliger: Klassik Kampf – Ernste Musik, Bildung und Kultur für Alle